Montag, 9. Juli 2012

Verständnis für Beschneidung(en)

Ein Griff in einen fremden Genitalbereich gilt allgmein als eine extrem Besitz ergreifende Geste. Wobei der Genitalbereich eines Kleinkindes allerdings noch nicht sexuell konnotiert ist. Mit der Beschneidung eines Kindes sagen die Verantwortlichen dennoch quasi: Du gehörst nun uns, der jüdischen Gemeinde.

Die Abtrennung der Vorhaut bei jüdischen Kindern stammt aus der Zeit der jüdischen Gefangenschaft in Ägypten und war usprünglich ein Ritual zur Kennzeichnung der Juden als Sklaven. Sicherlich kann man auch und gerade aus schlechten Zeiten auch einigen Gewinn an Lebensreife ziehen, wie beispielsweise die Bürger der ehemaligen DDR beweisen. Man könnte das Beibehalten der Beschneidung aber auch als eine Art "Stockholm-Syndrom" auffassen.

Die Beschneidung bedeutet sicher auch eine gewisse nervliche Abstumpfung im genitalen Bereich, mit mutmasslicher Wirkung auf die gesamte Person. Die Entfernung dieses „Zipfels der Lust“ kann somit auch als eine vorbeugende Zügelungsmassnahme gegen allzu ausschweifende Sexualität verstanden werden. Damit begründen aber auch Muslime die Beschneidung ihrer jungen Mädchen. Die Desensibilisierung des sensibelsten Bereiches eines Mannes, also seines Genitalbereiches, kann und soll vermutlich auch einer Stärkung des Gegenteils, nämlich seiner Kampfbereitschaft dienen. Der jüdische Mann soll vermutlich kein Playboy werden, sondern kämpferischer Verteidiger des Judentums und seiner jüdischen Gemeinde, der er angehört, durch die Beschneidung. Das ist vielleicht geschichtlich verständlich und nicht verwerflich.

Last but not least kann die Beschneidung auch als eine Art Opfergabe an den Schöpfer bzw an das Schicksal aufgefasst werden. Ähnlich wie Abraham einen Sohn bereit war zu opfern. Die Opferung eines wertvollen aber doch verzichtbaren Körperteils aus dem Zentrum des körperlichen Daseins ist vielleicht soetwas wie ein kontrolliert vorweggenommener Schicksalsschlag, welches sich mit dieser Opfergabe vielleicht milde stimmen lässt. Wenn geheiratet wird, gibt es die jüdische Tradition ein Trinkglas als Symbol für die Zerbrechlichkeit des Glücks, zu zertreten. Vielleicht geht es bei diesen Ritualen darum, dem Dasein als Mensch die allzu übermütigen Spitzen zu nehmen und Demütigkeit zu verbreiten. Weil der Verlust der Vorhaut als Opfergabe nicht primär die Eltern trifft, aber von ihnen bzw der Gemeinde veranlasst wird, deren männliche Mitglieder ja selbst auch in ihrer Kindheit beschnitten wurden, bedeutet das eine Verschachtelung von Verantwortlichkeiten und somit auch eine Generationen übergreifende Verflechtung der Gemeindemitglieder, also eine Stärkung des Zusammenhaltes - allerdings mittels eines Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit des Kindes. Wohlmöglich könnte man die männliche Vorhaut als religiöse „Sollschnittstelle“ sehen, vom Schöpfer genau dafür geschaffen, zu scheiden wer opferbereit, also absolut Gottesfürchtig ist und verstanden hat, wie Leben und Schicksal in weiten Teilen aufgefasst und gepflegt werden, oder wer scheinbar selbstsüchtig und einer vermeintlich unerreichbaren körperlichen Perfektion nachstrebend sich angeblich zu viel anmasst. So aufgefasst habe ich Respekt und einige Sympathie für das jüdische Beschneidungsritual.

Aber es gibt eben auch die ausserjüdische Welt, den nicht-jüdischen Staat, in dem die jüdischen Gemeinden nur ein Teil sind, und der seine eigenen Grundgesetze hat, die ja durchaus von allen Staatsbürgern gestalteter, getragener, einleuchtender Konsens sind oder sein sollten.
(Übrigens bin ich KEIN Gegner der religiösen Praxis des Schächtens).

Die Beschneidung ist aber faktisch eine Körperverletzung eines Kleinkindes. Wem gehört das Kind? Allein den Eltern, der jüdischen Gemeinde, oder der gesamten Gesellschaft? Gibt es nicht Zeit gemässere Formen für Opferbereitschaft zur Anbindung an den Schöpfer?
Viele auch nichtjüdische Kinder kennen leichtere Formen der Körperverletzung beispielsweise von Impfungen, von denen manche schmerzhaft waren und dauerhafte Narben hinterliessen. Auch diese Körperverletzungen geschahen im Namen einer höheren Instanz, zum Wohle des Kindes aber auch der Gemeinschaft als Ganzes.

Das Problem einer freiwilligen Beschneidung eines erwachsenen jüdischen Mannes läge sicherlich auch darin, dass es für seine Glaubensgemeinde keinen Besitz anzeigenden Charakter mehr hätte. Es wäre mehr ein ganz persönlicher Akt. Ein unbeschnittener Junge in einer jüdischen Gemeinde ist offenbar soetwas wie ein unsicherer Kandidat, einer auf den die religiöse Gemeinde nicht bauen kann oder möchte.

Aber wir leben im Zeitalter der globalen Standardisierung von Werten und Normen, da braucht es als Komplement mehr Individualität. Auch die Beschneidung ist ein Akt der Gleichmacherei. Es gibt eine Notwendigkeit zur Übernahme von Bewährtem, aber auch zur Abschaffung sinnlos gewordener Rituale, der zunemehnden Gleichmacherei und Entmenschlichung etwas Individuelles und dennoch Institutionelles entgegen zu stellen. Der Jude Götz Aly hat in einem seiner jüngeren Bücher die geistige Regheit und Kreativität seiner deutschen Glaubensbrüder und -schwestern anerkannt. Und der Italiener Primo Levi hatte die innere Trägheit seiner jüdischen Vorfahren beklagt. Also: Können Juden einen der Moderne angemessenen, individuelleren Opfer-Ersatz finden, anstelle der Entfernung der männlichen Vorhaut?

Eine Religion, die ohne Beschneidung angeblich im Kern getroffen wird, und deren Gemeinden ohne männliche Vorhautbeschneidung zerfallen, ist das nicht absurd?

Ein paar andere Kommentare: "Wo bleibt die Religionsfreiheit des Kindes?""

"Wir sind sehr gut und mit Begeisterung in der Lage, Diskurse nicht nurzu ertragen, sondern auch zu befruchten und zu befördern."